Bicicletta da Corsa - Ventisei

pagina #16 www.biciclettadacorsa.de Ich bin mitten am Ende vom Chiemgau, denn ich kann bereits die weißen Gipfelspitzen aus dem Berchtesgadener Land in der Ferne erkennen. Der Weg ist ein feinster Singletrail, der sich über waldigen Boden leicht bergab schlängelt, mit klei- nenWurzeln und Steinen gespickt. Genau nachmeinemGusto. Durch den Laubwald blitzt die Spät- nachmittagsonne. Mit dabei sind Kocher, Kochtopf, Schlafsack, Zelt, Ersatzklamotten und einiges mehr. Ordentlich verstaut in zwei Packsäcke, auf einen Vorder- und Hinterradgepäckträger ge- schnallt. Alles, was man auf einem Singletrail nicht unbedingt mit sich führt. Und die Umstände sind das Rad. Ich bin mit einem Reiserad unterwegs, neuerdings auch Gravel mit Gepäcktaschen genannt, allerdings ohne Ständer. Nun schiebe ich alsomein Radmit klappernden Kochtöpfen den Trail hinab, in der Hoffnung, dass es, wie mein GPS mir andeutet, nicht mehr all zu lange so weitergeht. Denn sonst bekomme ich ein Problem. Ich möchte vor Einbruch der Dunkelheit ankommen. Lange schon steht das Ziel auf meiner To-Do-To-See Liste, aber ganz unten, als letzter Punkt. Schuld daran war eigentlich nur das Bild, das mich täglich begrüßte. Umringt von einemdicken goldenen Rahmen glitzert der Königssee auf diesem alten Ölgemälde. Wo dieses Bild herkommt, kann ich gar nicht mehr so genau sagen. Es passt auch eigentlich nicht dorthin. Aber selbst nach vielen Umzügen hat es sich doch immer wieder einen Platz verschafft. Und so hängt es bei mir auf dem Klo. Ich war jedenfalls noch nie dort, an diesemsagenumwobenen Königssee. Ich träume imFrüh- jahr von wärmeren Zielen im Süden: Italien, Spanien, Sonne, Meer, Gardasee. Dieses Frühjahr ist aber nicht wie normalerweise. In trauter Viersamkeit verbringen wir unsere Ausgangsbeschrän- kung zu Hause. Homeschooling, kochen, waschen, einkaufen, verfüttern bestimmen meinen Alltag. Nach draußen darf ich nur alleine, und nur im eigenen Umkreis. Die Polizei kontrolliert und ermahnt den Landkreis nicht zu verlassen. Meine Ideen werden aus der Not immer kreativer. Mein inneres Ich schreit! Ich muss hier dringend mal raus!!! Auf der Toilette kommt mir dann die Eingebung. Das Bild. Nicht mit dem Auto, klar, da könnte mein Kennzeichen mich verraten. Ich plane meine Route an der deutsch -österreichischen Grenze, möglichst versteckt an den Bergen entlang. VonWest nach Ost. So wenig Asphalt wie notwendig, soviel Gravel und Landschaft wie möglich. Hotels sind geschlossen, also nehme ich das Zelt mit. Restaurants und Bars sind verriegelt. Der Kocher muss mit. Von Garmisch an den Königssee will ich. Am Ende ploppt eine Route auf mit 266 km und 4700 hm. Drei Tage habe ich Zeit. Das sollte eigentlich machbar sein, denn Stress kann ich nicht gebrauchen. Den hab ich zu Hause. Nach einem Abschiedsbussi von der Familie an diesem frühen Morgen mach ich mich auf den Weg. Es ist bewölkt, und hat mehrere Tage lang geregnet. Nebelschwaden ziehen über den Ge- roldsee, und ich spüre die gute frische Luft, angereichert mit etwas, das sich so anfühlt wie Frei- heit. Dabei bin ich erst ungefähr eine Stunde von zu Hause entfernt. Ich gewöhne mich daran, dass das Rad schwerfälliger lenkt als sonst. Dafür rollt es super. Hätte ich nicht gedacht mit einem Gesamtgewicht von etwas über 22 kg. Der Schotterweg führt mich gen Süden, zur Isar. Ich bin al- leine. Niemand ist heute morgen unterwegs. Irgendwann, ich bin mittlerweile gut zwei Stunden on the road, kommt einer der rot markierten Punkte auf meiner Route. Rot bedeutet, dass ich bei- spielsweise nicht ganz sicher bin, ob diese Strecke mit einem Rad machbar ist. Unter normalen Bedingungen wäre dieser Punkt gar nicht so spannend. Aber die Umstände sind in dieser Zeit alles andere als normal. Deshalb ist der Punkt rot markiert. Eine fette Schranke quer über die Straße stoppt meinen Fahrfluss. Grenzübergänge sind gesperrt. Auf der anderen Seite erblicke ich ein großes A auf dem Schild und den Grenzstein auf dem Tirol steht. In mir kriecht ein Gefühl von Sehnsucht hoch. Es schnürt mir irgendwie die Kehle zu. So selbstverständlich war es einmal, die Grenzen nach Österreich zu überqueren. An diesemPunkt verläuft meine Route wirklich sehr nahe an der Grenze, umehrlich zu sein, führt der Weg tatsächlich auf der österreichischen Seite weiter. Ich schaue nach links und rechts, ein bisschen nervös bin ich schon, als ich mein Bike unter der Schranke hindurchschiebe. Aber ich will ja nur ganz kurz durch Tirol, beruhige ichmein Gewissen. Also ganz kurz, nur zu diesemSchot- terweg auf der anderen Seite, der mich dann bald wieder zurück nach Bayern bringen sollte. Ein wenig packt mich die Angst. Haben mich die aufgestellten Kameras gefilmt, werde ich nun wo- möglich verfolgt? Mit diesen Gedanken merke ich nicht mal, dass ich kaummehr die Kurbel zum Boden zu drücken kann, so steil ist der weg. Buchstäblich fliege ich hoch. In nicht allzu weiter Ferne erblicke ich das Schild, willkommen in Bayern. Ich atme tief durch. Die romantische Kapelle kommt mir gerade gelegen. Auf der Holzbank davor, erhole ich mich erstmal. Zuviel Adrenalin musste mein Körper die letzte halbe Stunde verarbeiten. Meine Semmel von heute morgen schmeckt dreifach gut. Gestärkt mit Essen und Selbstvertrauen rolle ich entspannt an der Weiß- ach entlang bis nach Rottach Egern.

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